Honved Budapest / BFC Siofok – Juni 2018
Nach Eintrachts Abstieg am letzten Spieltag in Kiel war klar: Mit so einem deprimierenden Ende können wir die Saison nicht ausklingen lassen. Also stieg wenige Wochen später eine Reisegruppe in den Flieger, um am letzten Spieltag der ungarischen Saison das zu sehen, was wir beim BTSV in der kommenden Saison nicht geboten kriegen: nämlich Erst- und Zweitligafußball.
Nach der Ankunft in einer fremden Stadt guckt man natürlich erstmal, wie die Leute so rumlaufen: Trägt man immer noch dieses Puszta-Outfit, wie in der TV-Serie ‚Arpad der Zigeuner‘? Trägt man vielleicht noch bunte Waffenröcke, wie die Offziere der k.u.k.-Armee? Auf der Suche nach einem Frühstücks-Gyros betraten unsere Style-Scouts, die Herthaner DaR und SeN, die erste Imbissbude neben unserer Unterkunft. Heraus kamen sie mit den ungläubigen Worten „Der Typ, der da drin das Essen macht, der trägt ein Shirt von Eintracht Braunschweig!“ Und tatsächlich: Wer in Budapest einer hungrigen Kundschaft vermitteln will, dass man ein kulinarisches Feuerwerk abzubrennen vermag, entscheidet sich offenbar für blau-gelbe Kleidung mit Eintracht-Logo!
Nach Stunden der Stadtbesichtigung brachen wir auf Richtung Bezirk Kispest, in Richtung der Flutlichtmasten zwischen den Plattenbauten, die wir bei der Anreise vom Flughafen schon durch die Fenster der S-Bahn gesehen hatten. Im Vorfeld eines ersten Stadionbesuchs in einem fremden Land hat man oft allerlei Wünsche, die sich in dieser Fülle selten erfüllen lassen: ein schönes, traditionsreiches Stadion soll es sein; in dem ein Verein mit herausragender Geschichte spielt; bei dem Vollbier für unter einen Euro pro Becher ausgeschenkt wird, selbst bei einem Derby; wo der Stadionsprecher einfach die Klappe hält, wenn ein wenig bunter Rauch aus den Blöcken aufsteigt. Gibt es alles nicht? Doch, gibt es: bei Honved geht das alles – beim ungarischen Noch-Meister, zu Hause im Derby gegen Vasas.
Klar, rein sportlich lässt sich feststellen, dass das fußballerische Niveau seit 1954 nicht ganz gehalten wurde. Damals wurden Honveds Farben im Wankdorfstadion noch von Spielern wie Grosics, Lorant, Bozsik, Kocsis und Czibor vertreten. Und natürlich von Puskas, der Fußball-Major, dessen Portrait die roten T-Shirts vieler Honved-Ultras ziert. Heutzutage steht da doch der eine oder andere Spieler auf dem Platz, den man statt als Fußball-Major eher als Fußball-Grenadier bezeichnen würde, der dreimal durch die Rekrutenprüfung gefallen ist. „Ey, komm, so überragend toll können die Honved-Spieler von 1954 aber auch nicht gewesen sein“, wurde auf unseren Tribünenplätzen gewohnt fachkundig gefachsimpelt. „Verzockten im Endspiel eine frühe 2:0-Führung. Gegen eine Nationalmannschaft mit Spielern aus Kaiserslautern, Essen und Köln. Wie unfähig diese Ungarn damals gewesen sein müssen!“
Im Übrigen erwies es sich als keine schlechte Idee, eine Handvoll Forint für Sitzplätze auf der Tribüne zu investieren, da – zu unserer Überraschung – im Juni in Ungarn Fritz Walter Wetter herrschen kann. Über den Regenschauer freute sich nicht nur der Stadionrasen, sondern auch jene Innenraumbegrenzung, die anstelle eines Zauns Platzstürme des Tribünenpublikums verhindern soll: eine Hecke! Während unsere Gartenfreunde gewohnt fachkundig fachsimpelten, ob es sich vor der Tribüne um eine Hecke aus Blutbuche oder Rotbuche handelt, planten andere schon eine Verhübschung des Eintracht-Stadions: „Nächste Saison, in Liga 3, wenn keine Sau mehr für Bandenwerbung zahlt, ersetzen wir die Werbebanden durch eine gelb blühende Ligusterhecke. Würde perfekt zur blauen Laufbahn passen!“
Während der Regen nachließ und ein kompletter Regenbogen sich am Himmel über Kispest zeigte, livetickerte das Handy, dass ein paar Kilometer weiter nordwestlich, in Klagenfurt, der Himmel wohl richtig seine Schleusen geöffnet hatte. Mit der Folge, dass das aktuelle Spiel einer Nationalmannschaft mit Spielern der Konzerntöchter SAP, Volkswagen und Red Bull nur mit Verspätung angepfiffen werden konnte. Und Özil – der seinem autokratischen Präsidenten wenige Tage zuvor ein Trikot gewidmet hatte – nur mit Verspätung ausgepfiffen werden konnte.
Nicht nur die Türkei, auch Ungarn hat mit Orban seinen Autokraten, der so gerne gegen die EU poltert. Für den Berliner Besucher kaum nachvollziehbar, fällt ihm in Budapest doch die moderne, intakte Infrastruktur auf, die sicherlich zu großem Teil aus Brüssel finanziert wurde. Zur modernen Infrastruktur gehören neben dem perfekten ÖPNV leider auch die seelenlosen und viel zu großen Sitzplatzschalen-Arenen, die inzwischen bei Ferencvaros, MTK und Ujpest entstanden sind. Besucht Honved, solange dieses wunderschöne kleine Stadion noch steht!
Auch die Vorzüge der Freizügigkeit für Arbeitnehmer in der EU wurden beim Derbybesuch in Budapest offensichtlich: Mussten minderbegabte deutsche Profis vor dreißig Jahren noch in Käffern wie Norderstedt, Erkenschwick oder Bürstadt kicken, können sie heute abseits der öffentlichen Wahrnehmung in Städten wie Bukarest, Bratislava oder Nikosia international Karriere machen. Auch bei Vasas hatte einer alles richtig gemacht: Wer beim Tabellenletzten Ungarns – das stand nach dem 1:3 bei Honved fest – 90 Minuten lang nur auf der Bank sitzt, käme in Deutschland wahrscheinlich nur bei Eintracht Northeim oder Optik Rathenow unter. Wie dieser Bankdrücker bei Vasas hieß? Burmeister. Nie gehört!
Im Vergleich zu Eintrachts Absaufen in Kiel wurde der Abstieg von Vasas überraschend temperamentlos zur Kenntnis genommen. Wer hat denn nun Paprika im Blut und Feuer unterm Gulaschtopf? Die Ungarn, die trotz polnischer Unterstützung aus Cracovia leise ihre Fahnen abhängten und nach Hause gingen, oder die Braunschweiger, die in Kiel so lange auf dem Zaun blieben, bis alle Spieler ihre Eintracht-Trikots abgegeben hatten?
Im Gegensatz zu Totte Lieberknecht kam Vasas‘ Trainer Oenning nach Abpfiff auch nicht heulend in die Kurve, sondern checkte auf der Bahn-App schnell die Verbindung nach Magdeburg. „Der Oenning wird mit seinem deutschen Trainerkollegen von Ferencvaros auf eine lange Reise gehen“, orakelte die Ungarin mit Kopftuch und Kristallkugel, die auf der Tribüne plötzlich an meiner Seite saß. „Der Vorname dieses Trainers ist Thomas… Ich sehe, dass Thomas mit Oenning zweite Klasse von Budapest über Prag nach Dresden fährt, dort in einen IC steigt…. Thomas schläft ein, ganz fest ein… O weh, erst zwei Stationen hinter Magdeburg wacht er auf… Am Kröpcke… O nein, Thomas Doll, steig dort nicht aus…“ Die Hellseherin bekreuzigte sich dreimal, warf etwas Salz über ihre Schulter und ging kopfschüttelnd ihres Weges.
Am nächsten Morgen stiegen wir erstmal selber in einen IC, und wären wir ebenfalls alle eingeschlafen, hätten wir am Nachmittag Zagreb erreicht. Doch die meisten schafften es wachzubleiben und gemeinsam stiegen wir vormittags in Siofok am Plattensee aus. Wie am Vortag nahmen wir fußballerische Erben der magischen Magyaren von 1954 in Augenschein – den Verein der WM-Finalisten Lantos, Zakarias und Hidegkuti, den MTK Budapest. Der MTK stand vor dem letzten Spieltag bereits als Meister der zweiten ungarischen Liga fest. Doch emotional lag unserer Reisegruppe der Gastgeber näher – uns Braunschweigern (AnS [w], BeF, ChB, GeW, UlS, UwF, WiG) wegen der blau-gelben Vereinsfarben, unseren Herthanern wegen dem Berlinerisch anmutenden BFC vor dem Siofok. (Scherz!)
Siofok ist – kein Scherz – ähnlich wie Honved ein völlig phänomenaler Ort für einen Fußballbesuch: oldschool Fußballstadion, oldschool Flutlichtmasten, oldschool Heimsupport mit Rauch und Tröte, blauer Himmel und gelbe Sonne. Noch besser: nur fünf Minuten Fußweg vom Bahnhof weg. Am allerbesten: in die andere Richtung ebenfalls nur fünf Minuten Fußweg vom Strandbad weg, an dessen Eingang sich UwD leider sträubte, sich von AnS einen aufblasbaren Badeflamingo kaufen zu lassen. Während sich die drei Lichtscheuen der Reisegruppe zum Frühschoppen auf schattiger Veranda verkrochen, riss der Rest der Gruppe sich die Klamotten von den bierverwöhnten, blassen Leibern und sprang erstmal in den Balaton. Sensationell warmes Wasser, im Frühsommer schon wärmer als das Mittelmeer im Spätsommer. Anschließend legten sich einige zum trocknen naggisch auf die Wiese. Als der Bademeister aufgeregt angesprungen kam und jede Menge Text aufsagte, fiel uns wieder auf, dass wir leider null Ungarisch verstehen.
Zart angebräunt und komplett bekleidet erreichten wir Stunden später Siofoks Stadionkasse, wo man jedoch auf unser Geld verzichtete, da der BFC – der bei einer Niederlage noch absteigen konnte – möglichst viele Einheimische mobilisieren wollte. „An deren Stelle würde ich mir Sorgen machen“, stellten wir fest. „Vorletztes Spiel: Eintracht abgestiegen. Letztes Spiel: Vasas abgestiegen. Kein Wunder, dass die vorhin ganz blass wurden, als wir am Stadiontor auftauchten.“
Null Forint Eintritt unterbot locker den bisherigen Tiefstpreis – 10 Zloty (2,50€) bei Slask Breslau, polnische Meisterrunde 2015 – den wir Berliner Löwen jemals auf Reisen für ein Ticket bezahlt hatten. Im Stadion selbst traf man auf eine mehrköfige deutsche Hopping-Community: Vielreisende aus dem Ruhrpott, die am Vorabend bei Ujpest auf lila Plastikschalen gesessen hatten. Und auf einen Braunschweiger, der prompt unseren Gelegenheitsmitreisenden FlP antickerte, ob er wüsste, wer dieser Eintracht-Mob ist, der heute in der ungarischen Provinz unterwegs ist. Ja, wusste er.
Zur großen Freude der Balaton Boys fiel das einzige Tor des Nachmittags zu Gunsten der Gastgeber, so dass am Ende alle happy waren: der BFC hatte die Klasse gehalten, und dem MTK wurde zum Gewinn der Meisterschaft eine hübsche Kristallvase überreicht. Die Konfettikanone feuerte, und UwD’s Sitznachbar trötet in dieser Sekunde wahrscheinlich noch immer seine Tröte. Wie am Vortag die Honved begann es zu regnen, doch statt Regentropfen regnete es goldenes Konfetti auf Rasen und Tribüne. In diesem Moment der Magie kam das beschissene Fußballjahr 17/18 dann doch noch zu einem golden glitzernden Ende!